Interview mit Fr. Dr. Vera Hüttemann

Interview der Fachzeitschrift "WirbelWind" (Elternzeitschrift für den Still- und Erziehunsalltag) mit Fr. Dr. Vera Hüttemann:

Wehret den Anfängen

Interview - Dr. Vera Hüttemann kennt die Sorgen um die Zahngesundheit von Kindern aus zweierlei Perspektiven: aus jener der Zahnärztin und aus jener der Mutter. Das macht sie zur optimalen Gesprächspartnerin in Sachen Stillen und Zahnhygiene.

Frau Dr. Hüttemann, wann sollte der erste Besuch beim Zahnarzt stattfinden?

Wir empfehlen mit etwa einem Jahr, wenn dann schon ein Zahn da ist. Meist ist dies erst einmal ein Kennenlern-Termin, bei dem das Kind die Praxis und das Team kennenlernt. Während es auf dem Schoss von Mama oder Papa (am besten dem Elternteil, das selbst am wenigsten Angst vor dem Zahnarzt hat) auf einem normalen Stuhl sitzt, können wir einen kurzen Blick auf das oder die Zähnchen werfen. Fast alle Kinder lassen sich dazu bewegen, den Mund zu öffnen, durch Ablenkung, mit Hilfe unserer lustigen Handpuppe oder weil Mama oder Papa es vormachen. Auch wenn wir nur die Lippen ein wenig zur Seite schieben dürfen, bekommen wir schon einen recht guten Eindruck vom Zustand im Mund und können erkennen, ob ein Kariesrisiko besteht.

Wie entsteht Karies bei den Kleinen?

Karies ist eine Erkrankung, die von mehreren Faktoren abhängt: Es gibt einen krankmachenden Keim, den Streptokokkus mutans. Er braucht einen Wirt (den Zahn), eine schützende Plaque (Zahnbelag) und ein Substrat von dem der Erreger sich ernährt (das Essen). Dann spielen noch die Zeit, die die Nahrung im Mund bleibt, und die Häufigkeit der Zufuhr, also die Anzahl der Mahlzeiten, eine grosse Rolle. Karies ist ganz klar eine Infektionserkrankung, denn Streptokokkus mutans gehört nicht zur natürlichen Bakterienflora der Mundhöhle des Babys, sondern wird in der Regel von den Bezugspersonen (Mutter, Vater, Geschwister, Grosseltern) übertragen, zum Beispiel durch das Abschlecken von Schnuller oder Löffel. Karies lässt sich daher also wirklich auch vermeiden.

Haben Stillkinder ein erhöhtes Kariesrisiko?

Nein, das Stillen an sich ist keine Gefahr, ganz im Gegenteil. Der Mensch hat seine Nachkommen ja schon immer gestillt, weil wir eben Säugetiere sind. Und es gab nicht von Anbeginn der Zeiten Karies, genau wie im Tierreich Karies ja auch nicht natürlich auftritt. Allein schon die Zusammensetzung der Muttermilch wirkt Karies entgegen: Sie enthält zwar Zucker, doch in Form von Laktose, die den pH-Wert im Mund der Babys kaum senkt. Anders als die Zuckerarten, die in künstlicher Säuglingsnahrung vorkommen: Sie ermöglichen es dem Karieserreger, starke Säuren zu bilden, die den Zahnschmelz aufweichen. Ausserdem enthält Muttermilch aktive Abwehrstoffe (Immunglobuline), die die Kariesbakterien unschädlich machen, sowie ein eisenbindendes Enzym (Lactoferrin), das den Erregern lebensnotwendiges Eisen entzieht. Dadurch können diese sich nicht mehr vermehren und sterben ab. Und obendrein steckt eine Menge Mineralien in der Muttermilch, so dass sie angegriffene Zähne sogar remineralisieren, also reparieren kann. Auch die Trinktechnik selbst wirkt schützend: Beim Stillen gelangt die Muttermilch fast direkt in den Schlund, weil die Brustwarze sehr tief im Mundraum liegt. Zudem legt sich die Zunge schützend über die Zähne im Unterliefer. Die Zähne haben also nur eine sehr kurze Kontaktzeit mit den Nährstoffen, ganz im Gegensatz zur längeren Kontaktzeit beim Trinken aus der Flasche.

Wieso wird aber dann nächtliches Stillen immer wieder für Kariesbefall verantwortlich gemacht?

Wenn ein Säugling nachts ein bis zwei Mal gestillt wird, stellt dies kein Risiko dar. Anders jedoch, wenn er sehr häufig trinkt, oder gar nur nuckelt, also immer mal wieder einen Schluck Milch in den Mund nimmt und ihn dann nicht schluckt. Dann bleibt ja ein Rest Milch im Mund und umspült die Zähne. Dadurch wird auch weniger Spucke gebildet, die nötig wäre, um den pH-Wert im Mund auf optimalem Niveau zu halten.

Wann sollen Eltern bei ihrem Nachwuchs mit der Zahnpflege beginnen?

Spätestens, wenn das erste Zähnchen da ist. Im Grunde aber schon viel früher, damit sich das Kleine an die Zahnhygiene gewöhnen kann. Sobald es möglich ist, können die Kauleisten des Babys mit einem weichen Baumwolltuch (Zipfel einer Mullwindel), einem Wattestäbchen oder einem speziellen Fingerling abgerieben werden, und auch Gaumen und Zunge sollten regelmäßig auf dieses sanfte Weise gereinigt werden. So können Ablagerungen gar nicht erst entstehen. Fluorid ist überflüssig und kann sogar schädlich sein, solange noch kein Zahn da ist. Denn es wirkt lokal, also direkt auf dem Zahn und nicht durch das Schlucken.

Nicht jeder kleine Mensch lässt sich gerne die Zähne putzen. Wie können Eltern an besten vorgehen?

Am besten ist es natürlich, wenn das Kind miterlebt, wie sich die Grossen die Zähne putzen. Die meisten Kleinen machen dann gerne auch mit. Die Kleinen und die sehr ängstlichen Kinder nimmt die Mutter am besten in den Arm, so dass sie sich beim Zähneputzen geborgen und sicher fühlen. Gleichzeitig haben die Eltern so gute Kontrolle und das Kind kann nicht so einfach ausweichen. Mit viel Zärtlichkeit und einer guten Portion Spass (etwa einem Zahnputzlied) wird es viel einfacher, das Kind zum Mitmachen zu bewegen. Zähne, Zunge, Gaumen und zahnlose Bereiche der Kauleisten können natürlich auch in Etappen gereinigt werden. Wichtig ist aber System und Konsequenz, so dass am Ende des Tages alles ein Mal abgerieben bzw. gebürstet wurde.

Ab welchem Alter ist die Verwendung von Fluorid wichtig?

Wir wissen heute, dass die lokale Anwendung von Fluorid die beste Wirkung zeigt. Darum empfehlen wir Zahnärzte bei Kindern ab dem ersten Zahn bis zu zwei Jahren einmal tägliche Zähneputzen mit einer etwa linsen- oder erbsengroßen Menge fluoridhaltiger Zahncreme (500 ppm). Zusätzlich sollte ein bis zwei Mal täglich ohne Zahncreme, bzw. mit Zahnpsta ohne Fluorid, geputzt werden. Wird nur Zahncreme ohne Fluorid verwendet, kann nach dem Zähneputzen ein "Fluoridtablettchen" gegeben werden, das sich aber langsam im Mund auflösen sollte, damit die Zähne möglichst lang in Kontakt mit dem Fluorid bleiben. Zusätzlich sollte beim Kochen fluoridierts Speisesalz verwendet werden.

Gibt es bei der Verwendung von fluoridhaltigen Mittel auch Risiken?

Ja, tatsächlich kann es bei einer Überdosierung von Fluorid zu Vergiftungserscheinungen kommen. Vor allem, wenn viele unterschiedliche Fluoridquellen gleichzeitig genutzt  werden (fluoridiertes Speisesalz, fluoridhaltiges Mineralwasser, Fluoridtabletten), sollte dies mit dem Zahnarzt besprochen werden. Allerdings braucht es schon wirklich hohe Mengen, die ein Kleinkind von allein nicht aufnehmen wird.

Xylit, das als Zuckeraustauschstoff in manchen Süssigkeiten enthalten ist, wird zur Kariesvorsorge angepriesen. Wie sinnvoll ist die Verwendung dieser Substanz?

Xylit ist eine natürlich vorkommende süsse Substanz, die schon seit 100 Jahren bekannt ist und aus Birkenrinde oder auch Mais gewonnen wird. Es kann von Streptococcus mutans nicht verstoffwechselt werden, so dass dieser sich nicht vermehrt und abstirbt. Ausserdem wirkt es remineralisierend auf den Zahnschmelz und macht die Plaque leichter entfernbar.

Dann ist Xylit tatsächlich hilfreich in der Prophylaxe?

Auf jeden Fall macht es Sinn, es zu verwenden. Die beste Kariesprophylaxe beginnt jedoch, wenn das Baby noch in Mamas Bauch schwimmt. In dieser Zeit sollten Mama, Papa, aber auch Geschwister und Grosseltern ihre eigene Zahngesundheit optimieren. Kariöse Stellen sollten behandelt und Plaque entfernt werden. Und eine regelmässige Verwendung von Xylit-Kaugummis wird empfohlen. Wenn diese Massnahmen nicht während der Schwangerschaft getroffen wurden, bleibt nach der Geburt immer noch genug Zeit sie nachzuholen, bevor das Baby die ersten Zähnchen bekommt. Wenn dann gut vorgesorgt wurde, um das Kleine in den ersten drei Lebensjahren noch nicht mit Streptococcus mutans infiziert wurde, stehen die Chancen gut, dass es im späteren Leben keine Karies bekommt.

Mit Dr. Vera Hüttemann sprach Kristina Heindel

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